Bei der Bildung von Landesregierungen ist Thüringen in den vergangenen Jahren zum Labor für außergewöhnliche Konstellationen geworden. Nach der bundesweit ersten rot-rot-grünen Koalition und einer von der CDU de facto tolerierten Minderheitsregierung unter Beteiligung der Linken hat sich nun zum ersten Mal eine Koalition unter Beteiligung des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) gebildet. Mehr Demokratie analysiert die demokratiepolitischen Vorhaben und die zugehörigen Leerstellen des Koalitionsvertrags.
Direkte Demokratie
„Wir setzen uns dafür ein, dass die Instrumente der direkten Demokratie in Thüringen gestärkt werden.“ (S. 100)
Thüringen hat die bundesweit besten Regeln für Bürgerbegehren und Bürgerentscheide. Auf kommunaler Ebene besteht kein Handlungsbedarf. Insofern muss davon ausgegangen werden, dass sich diese Absichtserklärung auf die direkte Demokratie auf Landesebene bezieht.
Dass im April tatsächlich noch eine Verfassungsreform verabschiedet wurde, war auch ein Verdienst des zivilgesellschaftlichen Bündnisses „Thüringen braucht die Verfassungsreform!“, an dem auch der Thüringer Landesverband von Mehr Demokratie beteiligt war. Die direkte Demokratie blieb bei der Reform jedoch außen vor; die CDU hat sich verweigert, obwohl sie selbst Vorschläge gemacht hatte, an die sie sich nun nicht mehr erinnern wollte.
Im neu gewählten Thüringer Landtag verhindert eine Sperrminorität der AfD eine mögliche Verfassungsreform. Dennoch wäre ein Prüfauftrag, der die bekannten Vorlagen aufgreift, problemlos möglich gewesen, wenn es hierfür einen politischen Willen gegeben hätte.
Wahlrecht
Keine Erwähnung.
Mehr Demokratie hat mit einer Öffentlichen Petition einen Gesetzentwurf für eine Modernisierung des Kommunalwahlrechts in den Landtag eingebracht. Der Vorschlag wurde am 24. Mai 2022 in einer Anhörung öffentlich im Landtag diskutiert. Die zentrale Forderung ist die Einführung einer Experimentierklausel für Kommunen. Unter dem Stichwort „Kommunen als Labore“ würde die Klausel es den Kommunen ermöglichen, einzelne Instrumente auszuprobieren, die die Kommunalwahlen attraktiver und bürgerfreundlicher machen könnten.
Weder diese Vorschläge, noch ein Verbot von Scheinkandidaturen finden sich im Koalitionsvertrag.
Transparenz
„Ein moderner Staat muss nicht nur effizient und digital sein, sondern auch serviceorientiert, bürgerfreundlich und transparent agieren. Zu diesem Zweck werden wir verstärkt auf Open-Government-Maßnahmen setzen und insbesondere das Transparenzgesetz zu einem Open-Data-Gesetz fortentwickeln.“ (S. 116)
2020 hat das Thüringer Transparenzgesetz (ThürTG) das bis dahin geltende Informationsfreiheitsgesetz abgelöst. In einem Transparenzportal sollen laut Gesetz wichtige Informationen proaktiv veröffentlicht werden. Der Ländervergleich und die Anwendung des Portals zeigen aber, dass es hier Verbesserungsbedarf gibt. Die geplante Fortentwicklung ist zu begrüßen, da mehr behördliche Transparenz auch das Vertrauen in Verwaltungen und in die Demokratie stärken.
Bürgerbeteiligung
„Bürgerinnen und Bürger sollen die Möglichkeit haben, ihre Anliegen direkt in den politischen Entscheidungsprozess einzubringen und aktiv an der Gestaltung der politischen Zukunft des Landes mitzuwirken. Hierbei wollen wir den Thüringer Bürgerbeauftragten weiter stärken und gezielt in digitale Formate investieren, die die Menschen am politischen Prozess beteiligen.“ (S. 100)
Die Investition in digitale Formate umfasst vermutlich den Ausbau der bereits vorgesehenen Online-Beteiligungsplattform und die Bewerbung des bestehenden Diskussionsforums beim Thüringer Landtag. Beide Maßnahmen würde die Bürgerbeteiligung stärken.
„Insbesondere werden wir Bürgerräte, Bürgerbeiräte und Bürgerwerkstätten auf kommunaler Ebene evaluieren und dies wissenschaftlich begleiten.“ (S. 100)
Kommunen bei der Evaluation von Bürgerräten mit Finanzmitteln und Expertise zu unterstützen und die Ergebnisse zu bündeln, ist ein guter Ansatz. Bis dato gab es jedoch in Thüringen keinen von einer Kommune organisierten Bürgerrat. Darum bedarf es zunächst einer Förderung und Ermutigung der Kommunen, Bürgerräte zu initiieren. Hier lohnt sich der Blick nach Sachsen und das dort bestehende Förderprogramm.
„Wir erkennen an, dass viele Menschen […] die Stationierung von Mittelstreckenraketen als eine fundamentale Veränderung der strategischen und militärischen Lage […] begreifen. […] Wir fördern eine breit angelegte Debatte; hierzu wollen wir in Thüringen die Möglichkeit schaffen, dass Bürgerinnen und Bürger sich nicht nur äußern können, sondern dass ihre Meinung in Bürgerräten gehört werden wird.“(S. 107)
Ein Bürgerrat zur Stationierung von Mittelstreckenraketen ist allein aus methodischer Sicht zu kritisieren. Der Freistaat Thüringen hat in dieser Sachfrage faktisch keine Kompetenzen. Die gängigen Qualitätskriterien für Bürgerbeteiligung raten davon ab, Menschen zu einem Thema zu beteiligen, wenn die Umsetzung der Vorschläge nicht gewährleistet werden kann. Selbst wenn der Landtag oder die Landesregierung Empfehlungen des Bürgerrats umsetzen wollten, fehlte es ihnen an der Handhabe. Hier stellt sich die Frage, ob mit „Bürgerräten“ tatsächlich gemeint ist, was darunter gemeinhin verstanden wird: ein per Losverfahren zusammengesetztes Beratungsgremium.
„Um den Umgang mit Petitionen bürgernäher zu gestalten, prüfen wir eine Änderung des Verfahrens zur Bearbeitung von Petitionen und der dafür notwendigen rechtlichen Grundlagen in Anlehnung an das bayerische Petitionsverfahren.“(S. 100)
Thüringen hat unter anderem durch die Möglichkeit Öffentlicher Petitionen ein sehr gutes Petitionsverfahren. Inwiefern eine Anpassung des Petitionsrechts an bayerische Regelungen zu einer Verbesserung führen sollen, ist bisher nicht ersichtlich.
Sollen die Vorhaben umgesetzt werden, wäre ein Ausbau der „Landesservicestelle BürgerInnenbeteiligung“ bei der Thüringer Staatskanzlei folgerichtig. Eine konkrete Formulierung fehlt jedoch im Koalitionsvertrag.
„Verfassungsviertelstunde“
„Mit der »Verfassungsviertelstunde« wollen wir ein wöchentliches Format entwickeln, das das Bewusstsein für die fundamentale Bedeutung demokratischer Teilhabe sowie der Werte der Thüringer Verfassung und des Grundgesetzes für das Leben des Einzelnen und das gesellschaftliche Zusammenleben stärkt.“ (S. 20)
In Demokratiebildung zu investieren, hält Mehr Demokratie für den richtigen Ansatz, ebenso die geplante „Verfassungsviertelstunde“. Diese Idee, die in Bayern bereits umgesetzt wird, kann zudem, wenn sie als Ausgangspunkt betrachtet wird und ausgebaut wird, das Potential haben, Demokratie in Schulen stärker erlebbar zu machen.
Fazit
Bei den Themen direkte Demokratie, Wahlrecht und Bürgerbeteiligung bleiben CDU, BSW und SPD unkonkret. Einige Vorhaben sind unstimmig. Der Koalitionsvertrag lässt viele Fragen offen – und eröffnet damit auch Handlungsräume. Hoffentlich.
Der Koalitionsvertrag kann hier heruntergeladen werden.